Der Becher einer älteren Dame im Rollstuhl ist heruntergefallen. Pflegedienstleiterin Petra Thies hebt ihn auf, spült ihn ab und stellt ihn wieder aufgefüllt an seinen alten Platz. Das ist eine alltägliche Szene im Caritas-Alten- und Pflegeheim Marienheim in Schwandorf. Doch etwas ist anders als früher: "Die Bewohnerin hat mit wachem und aufmerksamen Blick alles mitverfolgt und wollte den Becher selbst aufheben", bemerkt Thies. Das war bis vor wenigen Monaten noch anders.
Von der Diskussion zum Vorzeigeprojekt
Im vergangenen Februar fand im Marienheim eine Fortbildung für die Pflegekräfte zum Thema "Sucht im Alter" statt. Monika Gerhardinger von der Caritas-Fachambulanz für Suchtprobleme in Regensburg startete das Projekt "Vernetzung Sucht- und Altenhilfe" vor einem halben Jahr. Ziel ist es, die Pflegefachkräfte für problematisches Konsumverhalten von Heimbewohnern zu sensibilisieren und ihnen angemessene Reaktionsmöglichkeiten aufzuzeigen. Der Alkoholkonsum ist bei Senioren in den letzten Jahren bundesweit gestiegen, Medikamente und Glückspiel sind auch in Altenheimen ein Thema. "Dieses Thema und die Fortbildung hat bei uns zunächst für einigen Gesprächsstoff gesorgt", sagt Pflegedienstleiterin Thies. "Wir haben kein Alkoholproblem und wir werden unseren Bewohnern auch nicht das Biertrinken verbieten", war zunächst der Tenor. Doch Suchtexpertin Monika Gerhardinger konnte die Altenpflegefachkräfte bald überzeugen. Es gehe nicht nur um Alkohol, sondern eben auch um Medikamente.
Zunächst wurden in den darauffolgenden Tagen die Medikamentendosen aller Bewohner überprüft. Gemeinsam mit den Hausärzten, behandelnden Neurologen und Angehörigen konnte die tägliche Medikamentenvergabe zum Teil deutlich zurückgefahren werden. Diese betraf besonders Schmerzmittel, die nach vorherigem Gespräch mit den Bewohnern und mittels festgelegter Schmerzeinschätzungen gezielt reduziert werden konnten. Doch Thies versichert: "Niemand muss bei uns Schmerzen aushalten, die Bewohner bekommen bei Bedarf natürlich die Tablette." Die Umstellung zeigt positive Effekte bei Bewohnern und Mitarbeitenden: Die Pflegefachkräfte müssen nicht mehr so viel dokumentieren, haben mehr Zeit für die Bewohner. Die Bewohner sind wacher, fitter und aktiver. Sechs Betreuungsassistenten und zwei Gerontofachkräfte organisieren jeden Tag für die Senioren Aktivitäten wie Basteln, Kochen, Backen, Musizieren oder die Gruppe unternimmt einen Ausflug in das Schwandorfer Stadtzentrum. Alle Angebote werden nun viel besser angenommen.
Aktiv sein mit weniger Medikamenten
Petra Thies reicht der älteren Dame den Becher mit neuem Mineralwasser. "Eine kleine Stärkung, bevor es los geht", sagt die Seniorin mit kräftiger Stimme. Heute kommen zehn Schülerinnen und Schüler, um in der sozialen Betreuungsgruppe mit den Bewohnern Brettspiele zu spielen, zu lesen oder zu plaudern. "Krankheit und Tabletten sind kein Thema mehr, Aktivitäten wie Kegeln, Gymnastik oder Gedächtnistraining stehen mittlerweile im Vordergrund", so Monika Zimmermann, die als Gerontofachkraft die soziale Betreuung leitet. Die Jugendlichen sind beeindruckt von ihren älteren Gesprächspartnern. "Wahnsinn, was die Leute hier aus Ihrem Leben erzählen. Da habe ich ja fast ein langweiliges Leben dagegen", bemerkt der 14-jährige Jonas mit einem Lächeln.
Das Mittagessen steht auf dem Tisch. Aus allen Winkeln des Hauses kommen die Senioren zusammen, um im Speisesaal Platz zu nehmen. "Das Essen war früher immer so eine Sache", sagt Petra Thies. Durch starke Magenmedikamente, die gegen die Nebenwirkungen der Schmerzmittel genommen werden mussten, hatten viele Bewohner keinen Appetit oder waren teilweise zu schwach zum Essen. Heute holen sich viele einen Nachschlag. Manchmal gibt es zu besonderen Festen oder an Geburtstagen zum Essen auch ein Radler oder einen Sekt. "Wir können und wollen den Bewohnern das Trinken nicht verbieten." Aber Bewohner und Pflegefachkräfte reden offen über das Thema. "Unser Vorsatz lautet ‚In Maßen genießen’", so Thies weiter.
Die Idee macht Schule
Das Marienheim mit seinen 77 Betten und zwei Wohnbereichen ist vergleichsweise klein. Doch die Erfolge, die in den letzten Monaten erzielt werden konnten, lassen sich auch auf andere Heime übertragen, ist sich Thies sicher. Ihrer Meinung nach sollte sich jedes Altenheim die Mühe machen, die Medikamentendosierungen regelmäßig zu überprüfen und zu hinterfragen. Die Angehörigen und Ärzte sind da ganz wichtige Ansprechpartner, die "unbedingt mit ins Boot geholt werden müssen". Eine kleine Änderung könne so viel bewirken. Man müsse nur aufmerksam sein, so Thies. Sie nimmt den Becher der alten Dame und füllt wieder nach. Die Dame beobachtet sie dabei aufmerksam.
Zusatzinfo Teil 1:
Im Caritas Alten- und Pflegeheim Marienheim in Schwandorf leben 77 Personen. Ausgebildete Pflegekräfte sind rund um die Uhr für sie da. Das Marienheim befindet sich in der Trägerschaft des Diözesan-Caritasverbandes Regensburg. Im Bistumsgebiet gibt es 51 katholische Alten- und Pflegeheime, davon sind 18 allein in Trägerschaft der Caritas. Fast 4000 ältere Menschen verbringen in diesen Häusern ihren Lebensabend. Mehr Informationen zur Caritas-Altenhilfe in der Diözese Regensburg gibt es im Internet auf www.altenhilfe-caritas.de.