Das Pfeifen einer Mörsergranate kennt Ramsan (alle Namen geändert) genau. Es hört sich an, wie eine kochende Teekanne, die die Großmutter jeden Mittag auf den Herd stellte. Mit gespitzten Lippen versucht der siebenjährige Junge dieses Geräusch zu imitieren. Ramsan hat von Kindheit an in Tschetschenien viel Leid und Tod erlebt. 2013 floh die Familie nach Deutschland. Die Strapazen haben auch bei Ramsan deutliche Spuren hinterlassen. Die Caritas unterstützt die Familie.
Ramsan und seine Familie kommen aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Argun, etwa 70 Kilometer von Grosny entfernt. Als er fünf Jahre alt war, betraten eines Nachts Bewaffnete das Haus. Am Tag zuvor war es zwischen tschetschenischen Extremisten und russischen Sicherheitskräften zum Schusswechsel gekommen. Ramsans Vater und Onkel wurden verdächtigt, der Polizei geholfen zu haben. Der Onkel wurde noch im Haus vor Ramsans Augen mit einem Kopfschuss getötet. Der kleine Junge träumt seitdem dieses Ereignis Nacht für Nacht. "Ich habe viel Angst vor dem Schlafen gehen. Wenn es dunkel wird, bin ich wieder dort", sagt er mit zittriger Stimme. Mit "dort" meint er das Haus in Argun. Ramsan nennt es das "Tod-Haus". Wenige Tage später floh die Familie über die Türkei nach Deutschland. Vier Personen mit zwei Taschen voll Kleidung und Decken, dazu noch vier Kissen. Sie landeten zunächst in der Erstaufnahmeeinrichtung in Zirndorf und kamen dann nach Regensburg. Seither sucht die Familie regelmäßig die Asylsozialberatung der Caritas auf.
Für Caritas-Berater Christian Bumes ist Ramsan kein Einzelfall. "Wir unterstützen und beraten zahlreiche Flüchtlingsfamilien mit psychisch-erkrankten oder traumatisierten Angehörigen. Häufig sind es die Kinder, die unter den unglaublichen Strapazen leiden." Das Team der Asylsozialberatung hilft Flüchtlingen, sich im Alltag zurechtzufinden. Sowohl Asylbewerber, abgelehnte Flüchtlinge mit Duldung als auch Menschen mit einer nicht auf Dauer ausgelegten Aufenthaltserlaubnis kommen zur Caritas, um Rat und Beistand zu erhalten. Besonders die Hilfe im Ämterdschungel und die psycho-soziale Beratung stehen in der Beratungsarbeit im Vordergrund. Kriegstraumata sind unter den Flüchtlingen ein häufiges Phänomen. "Sie kommen mit ausgeprägten Belastungen zu uns und brauchen dringend unsere Hilfe", so Bumes weiter.
Die Liste der Probleme bei Ramsan ist lang: Aggression, Wutausbrüche, hohe Schreckhaftigkeit, Todesangst, Schlafstörungen, Anspannung, Trauer und selbstverletzendes Verhalten. Ein Kinderpsychiater hat eine starke posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert. Diese psychische Erkrankung tritt vor allem bei Menschen in Krisengebieten auf und ist oft die Folge traumatischer Erlebnisse. Die Asylsozialberatung beantragte deshalb Anfang 2014 eine psychotherapeutische Behandlung. Ohne diese würde der Junge zeitlebens an psychischen Störungen leiden.
Doch genau das gestaltet sich schwieriger als man denken mag. Die durchschnittliche Wartezeit für einen Therapieplatz beträgt sechs Monate. Das war aber nicht das größte Problem. Nach den Europäischen Aufnahmerichtlinien für Flüchtlinge haben Kinder, die traumatisierende Ereignisse erlebt haben, "Anspruch auf entsprechende Reha-Maßnahmen". Dies schließt eine psychologische Begleitung mit ein - "bei Bedarf". Auch im Asylbewerberleistungsgesetz steht, dass Leistungen, wie Psychotherapie oder Traumatherapie, "gewährt werden können". Eben jene Einschränkungen erschweren eine schnelle und nachhaltige Hilfe für Kinder wie Ramsan. Anfang März wurde dann der Antrag auf Traumatherapie vom Sozialamt und dem kooperierenden Gesundheitsamt abgelehnt. Die Familie ist derzeit geduldet und kann jederzeit abgeschoben werden. Deshalb sei eine längere Therapie nicht sinnvoll, so die Behörden. "Wer geben dafür nicht den Behörden die Schuld. Wir arbeiten sehr gut mit ihnen zusammen", so Bumes. Der Asylberater sieht vielmehr die nicht eindeutige Rechtslage als großes Problem an. Ein Hoffnungsschimmer: Deutschland hat vor kurzem die UN-Kinderrechtskonvention ohne Vorbehalt unterschrieben. Diese garantiert Kindern eine uneingeschränkte Gesundheitsversorgung.
Bumes und seine Kollegen kämpften weiter. Gutachten wurden eingeholt, auch Ramsans Lehrerin gab eine Stellungnahme ab. Der Siebenjährige ist seit September in der ersten Klasse einer Regensburger Grundschule, da er, wie alle Flüchtlingskinder ab sechs Jahren, schulpflichtig ist. Trotz seiner guten Deutschkenntnisse ist Ramsan in der Klasse aber isoliert. Er erschrickt bei jedem Geräusch und versteckt sich häufig unter seinem Tisch, so die Lehrerin. Die Gutachten erzielten aber nun die gewünschte Wirkung: Im August erhielt Bumes einen Brief. Die Therapie und deren Zahlung sind bewilligt.
Es ist Winter. Auf den Straßen der Stadt sieht man Menschen mit ihren Weihnachtseinkäufen. Ramsan und seine Familie sitzen bei Tee und belegten Broten zusammen. Plötzlich donnert es laut gegen die Hauswand. Ramsan hält sich die Ohren zu und wimmert leise. Er versucht, sich durch Übungen, die er in den ersten Therapiestunden gelernt hat, selbst zu beruhigen. Es war nur ein Ball, der gegen die Hausmauer schlug. "So ähnlich klingt der Schuss aus einem Gewehr", so seine Mutter, während sie ihn tröstet.
Kriegstrauma
Im Dunklen oft allein gelassen
Erschienen am:
26.12.2014
Herausgeber:
Caritasverband für die Diözese Regensburg e.V.
Von-der-Tann-Straße 7
93047 Regensburg
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