Mit der Selbsthilfegruppe raus aus der Sucht
Ein Freitagabend im Juli. Um 19 Uhr zeigt das Thermometer immer noch 30 Grad. Trotzdem ist Anna M. heute nicht, wie sie es an heißen Tagen sonst gerne macht, mit ihrer Freundin an den See gefahren. Denn freitags treffen sich die Alpha Panthers in den Räumen des Initiativhauses in der Freiburger Innenstadt. "Und mit jedem Freitag meine ich wirklich jeden Freitag, egal, ob Weihnachten ist oder Silvester", sagt Anna M., während sie für alle Teilnehmenden Gläser aus der Teeküche im Flur holt und eine Karaffe mit Wasser füllt.
Zwischen zehn und zwanzig Leute kommen regelmäßig zu den Treffen. Heute sind es sieben Frauen und fünf Männer, die sich um den in der Mitte stehenden Tisch herum versammeln. Was sie alle eint, ist ihre Suchterfahrung: Mit Amphetaminen, Cannabis, Kokain, Alkohol. Zu den Alpha Panthers kann jeder kommen, egal, welche Drogen er konsumiert hat. Einzige Voraussetzung ist, dass sie oder er inzwischen abstinent lebt. Das erklärte Ziel der Selbsthilfegruppe ist es, sich gegenseitig dabei zu unterstützen, dass dies auch so bleibt.
"Ich stand buchstäblich vor dem Nichts"
Anna M. ist seit über viereinhalb Jahren trocken. Fast genauso lange kommt sie freitags hierher. Nachdem sie ihren Entschluss gefasst hatte, nahm alles seinen Lauf. Termin beim Hausarzt, Absprachen mit der Drogenberatungsstelle, Aufenthalt in der Entgiftungsklinik. Als sie vier Monate später zurückkam, hatte ihr Mann eine neue Partnerin und die gemeinsame Wohnung war aufgelöst. "Ich hatte alles verloren, ich stand buchstäblich vor dem Nichts."
Die Verlässlichkeit der Selbsthilfegruppe und die Möglichkeit sich mit Menschen auszutauschen, die ähnliche Probleme und Ängste hatten wie sie, war ihr in dieser schweren Anfangszeit eine enorme Stütze. Und ist es bis heute. "Die Selbsthilfegruppe", sagt sie rückblickend, "ist mit das Wichtigste."
Der Vater war Alkoholiker
Heute weiß Anna M., dass die Weichen für ihren Alkoholkonsum schon in ihrer Jugendzeit gelegt wurden. Ihr Vater war Alkoholiker. Schon früh begann auch sie, hin und wieder einen Schluck aus seiner Flasche zu nehmen. Später, als junge Erwachsene, arbeitete sie in der Gastronomie. Auch hier fiel niemandem auf, dass die junge Frau gerne ein Glas zu viel trank.
Richtig aus dem Ruder lief ihr Alkoholkonsum erst, als sie mit 30 Jahren ihren Sohn verlor. Der war nach einer Hirnhautentzündung schwer behindert und verstarb mit nur zwei Jahren. "Da wurde es wirklich schlimm", erzählt Anna M. und kämpft bei der Erinnerung daran mit den Tränen. Hauptsächlich trank sie Wein, selten harten Alkohol. Aber sie steigerte ihren Konsum kontinuierlich. Sie fing an, die leeren Flaschen zu verstecken, trank heimlich, um den Pegel zu halten.
"Ich begriff, ich muss mir jetzt selber helfen"
So trank sie über viele Jahre, ohne dass ihr Umfeld sie offen mit ihrer Alkoholsucht konfrontierte. Inzwischen arbeitete sie als Bürokraft in einem Logistikunternehmen. Sie fühlte sich immer öfter unwohl, war häufig krank. Manchmal konnte sie morgens nicht zur Arbeit gehen, weil sie noch zu betrunken war.
So war es auch an jenem Freitagmorgen, an den sie sich noch ganz genau erinnert. Sie trat mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf ihren Balkon, stieß sich am Geländer, wäre beinahe gestürzt. In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie endlich etwas unternehmen muss. "Plötzlich wusste ich, ich kann nicht mehr länger auf Hilfe warten. Ich muss mir jetzt selber helfen."
Die Welt wahrnehmen, ohne betäubt zu sein
Nach dem Klinikaufenthalt zog Anna M. vorübergehend in eine betreute Wohngemeinschaft. "Das war nicht leicht für mich. Ich hatte noch nie in einer WG gelebt." Heute ist sie überzeugt, dass die enge Betreuung und der Austausch mit den Mitbewohnern direkt nach der Klinik das Beste für sie war.
Aber schon nach vier Monaten wagte sie den Schritt in eine eigene Wohnung. Zunächst übernahm sie auf Probe ein befristetes Studentenappartement, sechs Monate später zog sie in ihre eigene Wohnung. Die ist zwar klein, aber Anna M. hat sie geschmackvoll und gemütlich eingerichtet. Hier, in ihrem neuen Refugium, fühlt sie sich Zuhause.
Inzwischen hat sie angefangen, Ukulele zu spielen. Jeden Sonntag trifft sie sich mit Leuten zum Musik machen. Sie hat neue Kontakte geknüpft, mit denen sie Ausflüge in die Natur unternimmt. "Ich liebe die Natur, aber ich habe das all die Jahre gar nicht mehr wahrnehmen können, weil ich zu betäubt war."
Die Angst vor einem Rückfall
Den Erfahrungsaustauch in der Sucht-Selbsthilfegruppe will Anna M. bis heute nicht missen. Da ist zum Beispiel ihre Angst vor einem Rückfall. Oder das Wissen darum, wie sich das anfühlt, wenn nach einem Streit mit einem Freund oder einem Missverständnis mit der Arbeitskollegin plötzlich der gemeine Gedanke aufblitzt: Jetzt ein Bier.
Absolut wertvoll ist auch die Vernetzung der Alpha Panthers im Alltag. Neulich zum Beispiel hat Anna M. sich in ihrem Urlaub unverhofft in einem Hotelzimmer wiedergefunden, in dessen Kühlschrank jede Menge Alkohol stand. Da konnte sie nicht bis zum nächsten Treffen warten, sondern hat sofort eine Mitstreiterin aus der Gruppe angerufen, um zu beratschlagen, wie sie damit umgehen soll. "Jeder weiß", sagt sie, "dass er die anderen im Notfall anrufen und um Hilfe bitten kann."
Demnächst feiert Anna M. ihren fünften Geburtstag. Damit meint sie den Tag, an dem sie ihrer Alkoholsucht vor fünf Jahren den Kampf angesagt hat. Für sie ist dieser Tag ihr zweiter Geburtstag. Der Tag, an dem sie neu geboren wurde und ein neues Leben angefangen hat.
* Name von der Redaktion geändert
Junge Sucht-Selbsthilfe
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